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|24 Sep 2025|Klaus Leopold

KI ist Flight Level 0: Willkommen in der Höhle der Effizienz-Illusion

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Ich habe das Gefühl, dass wir mit dem derzeitigen Stand der künstlichen Intelligenz einen Rückschritt in der Organisationsentwicklung erleben. Vor rund 20 Jahren – also bevor Agile so richtig losging – war alles sehr stark auf individuelle Performance ausgerichtet: Boni für einzelne Mitarbeiter und individuelle Zielerreichung waren ganz normal. Dann kam die Agilität, und die brachte zumindest den Schritt vom Individuum zum Team. Das war zwar immer noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber immerhin ein Fortschritt.

Und heute? Mit KI reißt es uns derzeit wieder zurück – nicht auf Flight Level 1 (Teams), sondern runter auf ein nie beschriebenes Flight Level 0: individuelle Optimierung durch fancy KI-Shit. Copilots, Coding-Assistants, Tools, die Mails schreiben, Texte zusammenfassen, Bilder generieren. Alles super genial, fühlt sich gut an, und man kann sich jeden Tag mit „wow, schau mal, wie produktiv ich bin“-Momenten feiern. Aber: Systemisch ist das ein Rückschritt.

Die Illusion der Produktivität

Schauen wir uns die KI-Trainingslandschaft an: Fast alles, was da draußen angeboten wird, dreht sich darum, Einzelpersonen schneller zu machen. Klassiker:

  • „Von zwei Stunden Arbeit auf 20 Minuten“
  • „75% Zeitersparnis bei Präsentationen“
  • „Schneller schreiben, schneller coden, schneller alles“

Und natürlich entstehen dabei absurde Situationen:

  • KI erstellt perfekte Tabellen für Budgetplanung – die Freigabe im Vorstand dauert trotzdem bis nächstes Quartal.
  • KI schreibt dir automatisch den Urlaubsantrag – die Genehmigung hängt trotzdem drei Wochen beim Chef.
  • KI fasst Meetings zusammen – niemand liest die Zusammenfassung.
  • KI erstellt 25 Versionen eines Slogans – Marketing verbringt doppelt so lange, den „besten“ auszuwählen.
  • KI schreibt automatisch Meeting-Protokolle – aber die Beschlüsse werden trotzdem nicht umgesetzt.

Das fühlt sich zwar wie Fortschritt an – systemisch betrachtet, ist aber nichts anderes als schnellerer Leerlauf.

Flight Levels: Der Blick nach oben

Wie ich in meinem Buch Agilität neu denken beschrieben habe, reicht es nicht, lokal schneller zu werden. Meine Tastatur-Metapher: Wenn ich die Taste „A“ doppelt so schnell drücke, schreibe ich den Text trotzdem nicht schneller, solange das Gesamtsystem Tastatur gleich bleibt.

Genau da setzt Flight Levels® an:

  • Flight Level 1: Teams arbeiten schneller (die Tastenanschläge).
  • Flight Level 2: Bereiche koordinieren sich sinnvoll (die richtigen Tasten zur richtigen Zeit drücken).
  • Flight Level 3: Die Organisation richtet sich strategisch aus (der Texter entscheidet, welchen Text er überhaupt schreiben will).

Und wenn wir uns jetzt mal den KI-Hype ansehen: Wir sind derzeit nicht mal auf Flight Level 1 unterwegs, sondern runtergerutscht auf Flight Level 0 – die individuelle Task-Optimierung.

Wenn alle fancy KI-Shit machen…

…dann wird die Arbeit trotzdem nicht schneller fertig. Wenn jede Mitarbeiterin in einem Unternehmen plötzlich zum KI-Superhero wird und ihren Schritt 100-mal schneller erledigt – was passiert dann? Richtig: Das Zeug staut sich einfach an der nächsten Engstelle etwas länger. Mehr Output am Eingang des Systems heißt nicht, dass am Ende auch schneller Wert geliefert wird. Im Gegenteil: Es entsteht noch mehr WIP, noch mehr Rework, noch mehr Chaos. Lokale Optimierung = globale Suboptimierung. Willkommen in der Welt des Systemdenkens!

Wohin KI auf Flight Level 2 und 3 führen könnte

Was Unternehmen brauchen, sind nicht noch mehr Prompt-Workshops, sondern Ansätze, die Organisationen nach vorne bringen:

Flight Level 2 – Koordinationsebene:

  • KI erkennt Abhängigkeiten zwischen Projekten.
  • KI erkennt Konflikte zwischen Abteilungszielen.
  • KI schlägt vor, welche Meetings wegfallen können.
  • KI analysiert Kapazitäten bereichsübergreifend.
  • KI warnt, wenn zwei Bereiche parallel dasselbe entwickeln.
  • KI erstellt bereichsübergreifende Forecasts.
  • KI schlägt Alignment-Sessions vor.
  • etc…

Flight Level 3 – Strategische Ebene:

  • KI erkennt, wenn Maßnahmen nicht zur Strategie passen.
  • KI gleicht Strategie und Realität ab: „Wie viele Ressourcen werden tatsächlich für die Top 3 Ziele eingesetzt?“
  • KI macht sichtbar, wie viel des Portfolios wirklich Wert schafft.
  • KI erkennt Marktveränderungen und simuliert Auswirkungen.
  • KI simuliert Szenarien: „Was passiert, wenn wir 30 % Budget in Bereich A statt B stecken?“
  • KI erkennt, wenn strategische Initiativen versanden.
  • KI erstellt Heatmaps von Risiko und Value.
  • etc…

Jetzt klingt diese Liste an KI-Träumen schon recht sexy, oder? Aber da werden wohl noch ein, zwei Liter Wasser die schöne blaue Donau hinunterfließen, bis wir dort wirklich angekommen sind.

Kein KI-Superhero bringt dein Unternehmen voran – nur Fliegen auf Flight Level 2 und 3 bringt Wirkung

Ja, individuelle KI-Optimierung ist eh voll sinnvoll und erleichtert den Alltag. Auch dieser Artikel hier ist mit KI-Unterstützung entstanden: Ich habe eine Deep Research zu KI-Weiterbildungsangeboten gemacht, den Text als schnellen Braindump mit eher fragwürdiger Grammatik runtergeschrieben, und das LLM hat das Ganze in halbwegs lesbares Deutsch verwandelt. Übersetzung ins Englische? Natürlich wird mich die KI dabei unterstützen. Zeitersparnis: Ja, definitiv gegeben.

Aber wenn wir ehrlich sind: Systemisch betrachtet landen wir wieder bei der Tastatur-Metapher. In meinem Fall funktioniert es nur, weil ich den gesamten Text direkt „an den Markt“ liefern kann – ohne Handoffs zu anderen. Wäre er Teil eines größeren Projekts, müsste er durch Backlogs, Abstimmungen und Freigaben – und da hilft meine persönliche Produktivität exakt null. Klar, ich fühl mich kurz wie ein Held, weil ich voll der geile Artikel-Tipper bin – aber im System ändert sich (fast) nichts.

Und hier kommt der entscheidende Punkt: Wir sind noch weit davon entfernt, dass KI auf Flight Level 2 und 3 wirklichen Mehrwert liefert. Diese Tools gibt es schlicht noch nicht. Und ganz ehrlich: Ich glaube auch nicht, dass Unternehmen sie selber bauen werden. So wie Banken oder Autohersteller in den Anfangsjahren der Computerisierung auch nicht angefangen haben, eigene Betriebssysteme zu entwickeln. Es werden Anbieter sein, die mit FL2- und FL3-Lösungen um die Ecke kommen.

Bis es so weit ist, haben Unternehmen aber genug Hausaufgaben – ganz ohne KI: globale Optimierung, Alignment, Strategieumsetzung. Also genau die Themen, die auf Flight Level 2 und 3 passieren und mit einer Flight Levels System Architektur explizit gemacht werden. Und genau dafür gibt es die passenden Werkzeuge und Workshops: Flight Level 2 Design, Flight Level 3 Design und Flight Levels Systems Architecture.

Also: Optimier ruhig auch auf Flight Level 0 herum – macht Spaß, ist praktisch und mach dich individuell gesehen effizienter. Aber vergiss nicht: Echter Business-Impact entsteht nur, wenn du die KI und dich selbst auf Flight Level 2 und 3 hebst. Alles andere bleibt Spielerei.

Frank Wittwer
25 Sep 2025 09:36

“globale Optimierung, Alignment, Strategieumsetzung” cool, trotz oder gerade wegen KI, gelten jahrzehnte alte Grundsätze immer noch! Danke Klaus und Gruss aus der Schweiz

Klaus Leopold
01 Oct 2025 13:10

Danke 🙏 Ja, genau die grundlegenden Sachen verschwinden nicht, so wie sich eben Gravität auch nicht einfach wegzaubern lässt 😅

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