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|18 Jun 2017|Klaus Leopold

Kanban im Großen: Interview mit Bosch Automotive Electronics

Flight Levels, Praxisbericht
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Bosch Automotive Electronics, mit dem Headquarter im deutschen Reutlingen, ist weltweit einer der wichtigsten Zulieferer und Entwicklungspartner für die Automobilindustrie, aber auch für andere Anwendungsbereiche. Die mikroelektronischen Produkte wie Halbleiter und Sensoren werden zum Beispiel in Bremssystemen, aber auch in Consumer-Produkten wie eBikes eingesetzt. Ausgehend von Deutschland will sich Bosch Automotive Electronics mit Unterstützung von Kanban zu einer lernenden Organisation entwickeln, das umfasst auch die Standorte in China, den USA, Indien und Ungarn. Im Rahmen meines Buchs Kanban in der Praxis habe ich mit Hans-Oliver Ruoß und Andreas Haugeneder vom Engineering Efficiency Team ein Interview über diese Herausforderung und wie wir damit umgehen geführt.

Anna, Oliver, Andreas und Klaus beim Dinner in China

Klaus: Bosch Automotive Electronics (AE) hat vor einiger Zeit das Programm „Engineering Efficiency @ AE 2.0“ (EE@AE 2.0) gestartet. Worum geht es dabei, was ist das Ziel des Programms?

Andreas/Oliver: Nach einem drei Jahre dauernden, sehr erfolgreichen „klassischen“ Effizienzprogramm wollen wir ganz im Sinne unseres Leitbilds „We push the limits!“ die Grenzen noch weiter verschieben. Wir wollen ständig besser werden – bei dem, was wir tun und wie wir es tun. Das Ziel ist eine lernende Organisation. Die immer größere Komplexität und Schnelllebigkeit der Märkte erfordern ein ständiges Lernen auf allen Ebenen. Im Mittelpunkt stehen dabei ganz klar unsere Kunden.

Klaus: Dieses Programm war zunächst auf Deutschland beschränkt. Wie viele Mitarbeiter wurden dort auf die Reise zur lernenden Organisation mitgenommen?

Andreas/Oliver: Zu dieser Reise wurden zunächst alle Entwicklungsführungskräfte und alle Entwicklungsmitarbeiter in Deutschland eingeladen. Dies umfasst gut 2.000 Entwickler, die sich, mit der für ihr jeweiliges Umfeld passenden Geschwindigkeit, gleichzeitig auf den Weg machen. Wir wollen alle mitnehmen. Keiner soll auf der Strecke bleiben.

Klaus: Wir sind in Kontakt gekommen, weil ich in einem anderen Bereich von Bosch Kanban eingeführt habe. Ihr habt euch dafür interessiert und Kanban als geeigneten Weg empfunden, um Bosch AE zu einer lernenden Organisation werden zu lassen. Was genau hat euch als EE@AE 2.0-Team an Kanban angesprochen und für euer Ziel passend erscheinen lassen?

Andreas/Oliver: Um im Bild der Reise zu bleiben: Kanban für die Entwicklung und hierbei besonders der Einsatz von Kanban-Boards ist ein Wegstück zur lernenden Organisation. Wir setzen dabei auf ein hohes Maß an Transparenz auf allen Ebenen. Im ersten Schritt geht es um die Visualisierung von ansonsten nicht sichtbarer Wissensarbeit. Verkettete Kanban-Boards machen im zweiten Schritt Entscheidungen transparent und lenken den Blick auf das wirklich Wichtige: Der Kunde steht im Fokus, die Effektivität steigt. Und ganz nebenbei wird durch die Kanban-Methodik eine weitere nachhaltige Effizienzsteigerung erreicht, ohne die Arbeitsbelastung jedes Einzelnen zu erhöhen. Im Gegenteil: Es ist ein Teil der Zielsetzung, lokale Überlasten zu reduzieren. Die ständige Verbesserung ist Teil der Methodik.

Klaus: In unseren Vorgesprächen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass man eine auf dem Pull-Prinzip basierende Methode wie Kanban nicht nach dem Push-Prinzip einführen kann. Das heißt aber, dass ihr selbst erst lernen musstet, um die Methode mit der Methode einführen zu können, oder? Arbeitet auch das EE@AE 2.0-Team mit Kanban?

Andreas/Oliver: Ja, es war uns sehr wichtig, nicht einfach „die nächste Sau durchs Dorf zu treiben“, sondern vielmehr alle einzuladen, sich mit auf die Reise zu machen. Die Methode mit der Methode einzuführen, also selbst ähnlich zu agieren, erschien uns das erfolgversprechendste Konzept zu sein. Ganz nach dem Motto „alle lernen“ begeben wir uns auch als EE@AE 2.0-Team auf die Reise und scheuen uns nicht davor, die Richtung leicht zu korrigieren, wenn es erforderlich ist. Insofern ist unser Ansatz eher iterativ und adaptiv – kein klassischer Roll-out. Unser eigenes Kanban-Board macht die nächsten Schritte transparent und die Retrospektiven helfen uns, auf dem richtigen Weg zu bleiben.

Klaus: Nun sind allein in Deutschland wie gesagt gut 2.000 Mitarbeiter in die Initiative involviert und ihr verfolgt in der Umsetzung das Pull-Prinzip. Wie geschieht die Umsetzung, wie geht ihr vor?

Andreas/Oliver: Mit Hilfe von Early Adopters zeigen wir den Nutzen und die Vorteile des Ansatzes auf. Zudem bieten wir bei den individuellen Herausforderungen der Teams Unterstützung in Form von Coaching an. Die Mitarbeiter und Führungskräfte sind in diesem Sinne unsere Kunden. Wir müssen also ein gutes Produkt anbieten, sonst „kauft“ es keiner. Konkret heißt das, dass wir zusammen mit dir in einem Trainings-Modul 1 auf sehr anschauliche Weise die mit Kanban verbundenen Chancen aufzeigen. In einem Modul 2 entstehen dann die auf die individuellen Bedürfnisse der Teams zugeschnittenen Kanban-Boards. Die Teams werden in der Vor- und Nachbereitung intensiv vom EE@AE 2.0-Team gecoacht.

Klaus: Kanban für die Wissensarbeit hat seine Wurzeln in der Softwareentwicklung, im Rahmen eurer Initiative haben sich aber vor allem Ingenieurteams dafür entschieden. Bekommt ihr Rückmeldungen darüber, was die Ingenieure an dieser Arbeitsweise anspricht?

Andreas/Oliver: Die Herausforderungen ähneln sich: sich ständig ändernde Anforderungen, viele parallele Aufgaben, ständiges Umpriorisieren, Ressourcenknappheit und die Forderung nach immer kürzer werdenden Bearbeitungszeiten. Die Ingenieure möchten dem Kunden trotz herausfordernder Rahmenbedingungen ausgezeichnete Ergebnisse liefern. Dabei hilft es, nach dem Motto „stop starting, start finishing“ Arbeiten fertig zu machen, Multitasking zu vermeiden, Engpässe und Blockaden zu erkennen und abzustellen.

Klaus: Ich erlebe immer wieder Kanban-Initiativen, die fulminant starten und dann allmählich verpuffen. Bei Bosch ist das Gegenteil der Fall: Die Module, die ihr anbietet, sind laufend ausgebucht, die Zahl der Mitmachenden steigt konstant und bleibt auch konstant hoch. Warum haben die Leute Lust auf Kanban und wie sorgt ihr als EE@AE 2.0-Team für die nachhaltige Verankerung in der Organisation?

Andreas/Oliver: Der Startimpuls ist wichtig. Wir holen die Kollegen in ihrer realen Arbeitswelt ab und bieten Lösungen für ihre ganz individuellen Herausforderungen an. Die Adaption von Kanban-Prinzipien ist freiwillig, keiner wird gezwungen. Nach einem erfolgreichen Start ist es essenziell, die Kanban-Neulinge nicht alleine zu lassen. Wir bieten sowohl Unterstützung durch persönliches Coaching als auch durch eine Art Hotline an. Dabei steht nicht die Methode im Vordergrund, sondern „Entwickler helfen Entwicklern“. Der Blick von außen geschieht hier mit fachlicher Expertise, verbunden mit fundierter Methodenkenntnis. Nach etwa sechs Monaten operativer Erfahrung werden die Teams in einem weiteren Trainingsmodul – der sogenannten „großen Retrospektive“ – weiter gefordert und gefördert, auch mit deiner Unterstützung. Ganz nach dem Motto: „Wir wollen ständig besser werden.“ Weitere Erfolgsfaktoren liegen im Leading Change, in der Kommunikation sowie in der Tatsache, dass alle gemeinsam lernen – über mehrere Hierarchieebenen hinweg.

Klaus: Ich darf euch mittlerweile bei der Ausweitung der Kanban-Initiative auf China unterstützen, auch Standorte in den USA, Indien und Ungarn sollen folgen. Nun kommen also völlig andere Kulturen ins Spiel. Worauf achtet ihr dabei? Welche Unterschiede gibt es zwischen Kanban in Deutschland und Kanban in China?

Andreas/Oliver: Wir bleiben auch in den genannten Regionen dem Pull-Prinzip treu. Das erfordert, die „Werbestrategie“ für die Methode den jeweiligen Kulturen anzupassen. Der Nutzen, gerade in China auch der persönliche Nutzen, ist ein Schlüssel. Dies kann man noch als Ähnlichkeit zwischen den Kulturen ansehen. Dagegen ist die Transparenz und im Speziellen die Transparenz von Entscheidungen, wie ich es für Deutschland eingangs geschildert habe, in China kein Verkaufsargument für die Kanban-Methode. Die hohe Machtdistanz und die damit verbundene Entscheidungsmacht der Führungskräfte bleiben unangetastet. Auf der anderen Seite sind die Veränderungsbereitschaft und die Experimentierfreude stärker ausgeprägt als in unserem Kulturkreis.

Klaus: Wenn ihr auf die letzten Monate zurückblickt: Welche Effekte haben sich in der Organisation eingestellt?

Andreas/Oliver: Wir haben bereits jetzt einige der eingangs formulierten Ziele erreicht. Wir lernen wirklich gemeinsam auf allen Ebenen. Auch die Transparenz von Entscheidungen hat sich in vielen Bereichen für jeden einzelnen Mitarbeiter erhöht. Mit der Folge, dass wir stärker gemeinsam an einem Strang ziehen, um die Kundeanforderungen bestmöglich zu erfüllen. Wir haben die ersten Schritte in die Richtung einer lernenden Organisation getan – zum eigenen Nutzen und zum Nutzen unserer Kunden.

Dr.-Ing. Hans-Oliver Ruoß arbeitet seit 1989 in unterschiedlichen Verantwortungen für die Robert Bosch GmbH: von 2001 bis 2006 im Bereich Forschung & Vorausentwicklung als Leiter des Themenfelds „Hochfrequenztechnik, EMV und EMVU“; 2006 bis 2007 als Gruppenleiter im Bereich Gasoline Systems/Motorsteuerung; 2007 bis 2013 als Abteilungsleiter im Bereich Automotive Electronics, seit 2009 in Personalunion als Leiter des Bosch Kompetenzzentrums „Elektromagnetische Verträglichkeit“. Seit 2014 leitet er das Projektprogramm „Engineering Efficiency at Automotive Electronics“.

Dr. Andreas Haugeneder hat mehr als 15 Jahre praktische Erfahrung in der Entwicklung von Automobilelektronik. Nach verschiedenen Stationen als Führungskraft in der Entwicklung und im Einkauf widmet er sich seit einigen Jahren intensiv der Weiterentwicklung von weltweit verteilten und vernetzten Teams, vor allem nach den Prinzipien von Kanban für die Wissensarbeit.


Dieses Interview ist ein Auszug aus dem Buch Kanban in der Praxis, erschienen im November 2016 im Hanser Verlag.

Eine ausführliche Case Study über die Reise von Bosch Automotive Electronics hin zur lernenden Organisation wird in der 3. Auflage des Buchs Kanban in der IT veröffentlicht.

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